Straffällige und verhaltensauffällige Jugendliche in ein geordnetes Leben zurückführen: Diesem Ziel widmet Lukas Kradolfer einen Teil seines Berufsalltags. Durch seine Masterarbeit an der FHS St.Gallen hat sich eine aussichtsreiche Zusammenarbeit mit dem Sozialwissenschaftler und FHS-Dozenten Karl Weilbach ergeben.
Ein 13-Jähriger verprügelt regelmässig andere Kinder. Im Gespräch mit ihm stellt sich heraus: er tut es zum Schutz seiner jüngeren Geschwister. Der Jugendliche fühlt sich verantwortlich für sie. Er schlüpft in die Rolle des traumabelasteten Vaters, weil dieser nichts gegen die Sorgen seiner Kinder unternimmt. Mit solchen und anderen Fällen setzt sich Lukas Kradolfer seit Abschluss seines Weiterbildungsmasters in Psychosozialer Beratung an der FHS St.Gallen auseinander. Der 32-Jährige arbeitet neu in Teilzeitanstellung im Center für Integration und Begegnung (cib), einer polyvalenten Beratungspraxis von Dr. Karl Weilbach und seiner Frau Brigitte Spörri. Die neue Tätigkeit hat sich durch Kradolfers Masterarbeit ergeben; Weilbach, der auch als Dozent an der FHS St.Gallen tätig ist, war sein Betreuer.
Ein Fahrzeug in Schieflage
In seiner Masterarbeit beschäftigte sich Lukas Kradolfer mit delinquenten Jugendlichen. Er ging unter anderem der Frage nach, welchen Einfluss traumatische Erfahrungen in der Kindheit auf ein mögliches straffälliges Verhalten haben. «Mir ist es wichtig, zu verstehen, warum jemand ein Delikt verübt», sagt er. Seine Klienten will er nicht nur als Straftäter sehen, sondern die Gesamtpersönlichkeit mit ihren Licht- und Schattenseiten erkennen. Auch der Blick auf das Umfeld eines Jugendlichen sei ausschlaggebend, wenn es darum gehe, die Situation zu verbessern, so Kradolfer. «Oft ist zum Beispiel in der Familie kein Gleichgewicht mehr vorhanden. So wie bei einem Fahrzeug, das in Schieflage gerät, weil sich die Lasten darin einseitig verschoben haben.» Dann sei es notwendig, etwas an dieser Konstellation zu ändern. Im Falle des 13-Jährigen, der sein Verantwortungsgefühl unangemessen umsetzte, holte Kradolfer auch dessen Vater ins Boot. In einem Gespräch zeigte er ihm auf, wie sein Sohn und andere unter der Rollenumkehr leiden.
Eine Begegnung auf Augenhöhe
Die Beratungsstelle cib deckt verschiedene psychosoziale Beratungsfelder ab. Verhaltensauffällige Jugendlichen kommen meist auf Initiative von Schulen, der KESB oder der Jugendanwaltschaft. Gelegentlich kommt es zu Überschneidungen mit anderen Eindrichtungen: So war es auch bei einem Jungen aus einem Wohnheim, in dem Lukas Kradolfer noch heute im 80 Prozent-Pensum arbeitet. Als dessen Bezugsperson tauschte sich Lukas Kradolfer regelmässig mit Karl Weilbach aus. «Lukas und mich verband ein klarer Auftrag», sagt Weilbach. «Der Jugendliche sollte nicht erneut gewalttätig werden.» Bisher ist alles optimal verlaufen. Der Jugendliche wurde inzwischen aus der justiziellen Massnahme entlassen und hat nun ein Studium begonnen. Dieser Erfolg ist der gelungenen Beziehungsarbeit mit dem Klienten zu verdanken. «Wir sind fachlich wie ethisch auf der gleichen Wellenlänge», sagt Karl Weilbach. Sich über niemanden zu erheben, sondern sich zusammen auf die Suche nach der Lösung begeben, habe sich als gemeinsames Credo herauskristallisiert. Lukas Kradolfer schätzte die Begegnung auf Augenhöhe zwischen ihm und Karl Weilbach. «Es spielte nie eine Rolle, wer den höheren Abschluss hat, sondern wer über welche Stärken verfügt.»
Ein möglicher Nachfolger
Die Masterarbeit öffnete schliesslich die Tür zur Beratungstätigkeit. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen bereitet es Karl Weilbach keine Mühe, Lukas Kradolfer seine Klientinnen und Klienten anzuvertrauen. Gerade die Jugendlichen weiss er bei seinem neuen Mitarbeiter am richtigen Ort. Lukas Kradolfer sei aufgrund seines Alters nahe an der Lebenswelt der jungen Menschen, sagt Karl Weilbach. «Ich selbst wirke dagegen schon fast grossväterlich». In vier bis fünf Jahren möchte Weilbach beruflich kürzer treten. Mit Lukas Kradolfer hat er jemanden gefunden, der das Potenzial hätte, die Beratungspraxis in seinem Sinne weiterzuführen. Wie es in punkto Nachfolge weitergeht, wird sich in den nächsten Jahren zeigen.