Kinder haben Rechte – und das ist seit 30 Jahren in der UN-Kinderrechtskonvention festgehalten. Eines davon ist das Recht auf Partizipation. Doch gerade an Schulen gebe es heute noch praktisch nirgends eine gelebte Beteiligungskultur, die alle Kinder einschliesse, sagt Florian Baier von der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) am Community-Anlass Schulsozialarbeit.
Die Fridays-for-Future-Bewegung zeigt es: Kinder und Jugendliche fordern ihr Recht auf Mitsprache ein. Noch aber wird den Kinderrechten grundsätzlich zu wenig Beachtung geschenkt, obwohl es die UN-Kinderrechtskonvention bereits seit 30 Jahren gibt. Darin ist unter anderem festgehalten, dass Kinder und Jugendliche in jenen Bereichen, die ihre Lebenswelt betreffen, mitreden, mitwirken und mitentscheiden dürfen. Wie aber sieht es in der Schule mit dem Recht auf Partizipation aus, was kann die Schulsozialarbeit diesbezüglich tun und welche Bedeutung hat der Capability-Ansatz, die Chance zur Verwirklichung, Befähigung und zu einem «guten Leben»? Mit diesen und anderen Fragen beschäftigte sich der Community-Anlass Schulsozialarbeit vom vergangenen Donnerstag. Rund 40 Fachpersonen aus dem Bereich der Schulsozialarbeit liessen sich von Expertinnen und Experten auf den neuesten Stand der Umsetzung der Kinderrechte in der Schule bringen und diskutierten, was der Capability-Ansatz der Schulsozialarbeit bringen kann. Der Community-Anlass ist Teil der Veranstaltungsreihe «Wohin entwickelt sich die Schulsozialarbeit?» der deutschsprachigen Hochschulen für Soziale Arbeit.
«Schule sieht Kind als defizitäres Wesen»
«Dass Kinder in allen von ihnen betroffenen Entscheiden ein Mitspracherecht haben, wird in der Schule noch zu wenig diskutiert», sagte Florian Baier, Dozent am Institut Kinder- und Jugendhilfe an der Fachhochschule Nordwestschweiz in seinem Input-Referat. Die Beteiligung von Schülerinnen und Schülern beschränke sich überwiegend auf formale Beteiligung im Rahmen der Schülermitverwaltung. «Eine gelebte Beteiligungskultur, die alle Kinder einschliesst und sich auf sämtliche Aspekte des Schullebens bezieht, fehlt fast überall», sagte der Referent.
Das Bild vom Kind, mit dem die Schule Kindern begegne, entspreche in weiten Teilen nicht dem Bild des aktiven und kompetenten Bürgers, von dem die UN-Kinderrechtskonvention ausgehe. «Häufig ist das Gegenteil der Fall: Die Schule sieht Kinder vor allem als defizitäres Wesen, die kontrolliert und instruiert werden müssen. Ihre Fähigkeiten werden zu wenig geachtet und geschätzt.» Ausserdem demotiviere die Kinder der allgegenwärtige Vergleich mit anderen Kindern und führe zu einem Winner-Loser-Denken, das Rivalität und Ausgrenzung fördere. Dadurch kommen gemäss Baier die Freude am Lernen, wechselseitige Unterstützung und Solidarität mit anderen zu kurz. «Eine verbreitete Schulunlust bis hin zur Schulangst ist die Folge.»
Für eine Entwicklung der Kinderrechte sei «eine gemeinsame Haltung aller an den Schulen beteiligten Personen» nötig, so der Wissenschaftler. Hier spielten die Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter eine wichtige Rolle. «Die Soziale Arbeit ist eine Profession, die sich für Gerechtigkeit einsetzt.» Die UN-Kinderrechtskonvention und der Capability-Approach würden diese soziale Gerechtigkeit konkretisieren. Für Baier sind Kinderrechte und Capabilities «die Ziele respektive die erwünschten Wirkdimensionen von Schulsozialarbeit».
Die Leiterin des Lehrgangs CAS Schulsozialarbeit Simone Hengartner Thurnheer gab in ihrem Vortrag Einblick in ein aktuelles Praxisprojekt, das sich mit den Fragen beschäftigt, wie es gelingen kann, für Kinder einen Raum zu schaffen, der die Ausbildung von Integrität fördern kann und gleichzeitig die Integrität von Kindern nicht gefährdet. Um dies herauszufinden, besuchten Studierende die Monterana Schule in Degersheim, wo zunächst eine Gruppendiskussion nach der Methode des hawaiianischen Kinderphilosophen Thomas E. Jackson stattfand. Die Gesprächsprotokolle wurden danach auf Menschen- respektive Kinderrechte analysiert. «Die Aussagen der Schülerinnen und Schüler der Monterana zeigten eindrücklich, wie Partizipationsprozesse an dieser Schule gelebt werden», sagte Simone Hengartner Thurnheer. «Ein Raum zur Mitgestaltung und die aktive Förderung der persönlichen Meinungsbildung sind zwei von vielen weiteren Aspekten zur Ausbildung einer reflektierten Persönlichkeit, um verantwortungsbewusst im Geiste der Verständigung und des Friedens am Leben zu partizipieren – ganz wie es der Artikel 29 in der UN-Kinderrechtskonvention als Bildungsziel einfordert.» In einem weiteren Projekt wurden Kinder befragt, wie ihre Partizipation zu Hause aussieht, wo sie nicht mitentscheiden dürfen und was sie an ihren Eltern schätzen.
Partizipation strukturell verankern
Für die Diskussionsrunde teilten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in Gruppen auf und entschieden selber, welches Thema sie im kleinen Kreis vertiefen wollten. Einige beschäftigte vor allem die Frage, was Partizipation für Kinder und Jugendliche an Schulen überhaupt bedeutet und ob es nicht oft auch eine Schein-Partizipation ist. Ein Teilnehmer sagte, dass die Schülerinnen und Schüler noch heute kein Mitspracherecht bei den wirklich grossen Themen wie Stundenplan oder Zusammensetzung der Klassen hätten. Sie würden es auch nicht einfordern, weil sie es nicht gewohnt seien und es auch nicht besser wüssten, ergänzte eine Teilnehmerin. Partizipation müsse strukturell verankert ein. Dafür brauche es aber eine einheitliche Haltung – und Zeit. «Eine neue Haltung zu entwickeln ist wie eine neue Sprache zu lernen», meinte ein Teilnehmer.
Der anschliessende Netzwerk-Apéro bot Gelegenheit, sich über persönliche Erfahrungen auszutauschen und sorgte für einen gemütlichen Ausklang des Community-Anlasses.