Die Unternehmenswelt wird laufend globaler und digitaler. Erfolgreich ist, wer sich dem Wandel schnell anpassen kann – mit neuen, innovativen Produkten zum Beispiel. Firmen bemühen sich deshalb um Agilität. Selbstorganisation und Gleichheit ersetzen starre Strukturen und Hierarchie. Möglich machen dies bestimmte Organisationsmodelle: darunter die Soziokratie. In ihrer Masterarbeit ist Nicole Cipri der Frage nachgegangen, wie sich Soziokratie auf die Innovation in Grossunternehmen auswirkt. Sie hat an der FHS St.Gallen den MAS in Corporate Innovation Management absolviert. Heute ist sie als Head of Innovation bei CYP Challenge your Potential tätig. Zudem gründete sie aufgrund ihrer Masterarbeit ein eigenes Unternehmen. Im Interview spricht Nicole Cipri über Motivation durch Selbstverantwortung, über unangenehme, aber lehrreiche Situationen und über Vertrauen als wichtige Voraussetzung für Soziokratie.
Frau Cipri, Soziokratie bedeutet, dass Unternehmenseinheiten sich selbst organisieren und alle Teammitglieder in gleichem Masse mitbestimmen können. Als ehemalige Mitarbeiterin des Innovationsmanagement bei Post Finance haben sie Erfahrung mit soziokratischen Strukturen gemacht. In der Theorie klingt Soziokratie gut. Doch funktioniert sie auch in der Praxis?
Mir erschien dieses Modell in der Praxis sogar noch einfacher als in der Theorie. Unsere Abteilung hat 2014 beschlossen, versuchshalber soziokratische Strukturen einzuführen, um noch innovativer zu arbeiten. Wir haben uns im Team zusammengesetzt, alle Aufgaben auf den Tisch gelegt und verteilt sowie gemeinsam die Ziele formuliert. Wie man diese erreicht, war jedem von uns zwölf Mitarbeitenden selbst überlassen. Es spielte keine Rolle, wann, wo und wie man seine Arbeit erledigte. Am meisten beeindruckt hat mich, dass in diesem Modell alle über sich persönlich hinausgewachsen sind und viel motivierter bei der Sache waren.
Und steigert dieses Modell auch die Innovationskraft?
Bei einer Produktidee ist es wichtig, schnell agieren zu können. Das geht einfacher, wenn jeder in seinem Aufgabengebiet selbst bestimmen kann und über ein eigenes Budget verfügt, wie das bei uns der Fall war. In soziokratisch geführten Unternehmen ist der Aufwand, Innovationen anzustossen, also viel geringer, als wenn mehrere Entscheidungsträger eingebunden sind. Dadurch, dass jeder selbst die Verantwortung trägt, sind die Mitarbeitenden zudem meist mit Herzblut dabei und setzen viel Energie in ihr Projekt. Trotzdem wird nicht aus jeder Idee eine Innovation, die sich auf dem Markt behaupten kann. Das ist in diesem Bereich aber normal. Offiziell sagt man, dass sich nur 20 Prozent der Ideen wirklich durchsetzen. Meiner Erfahrung nach sind es sogar noch ein bisschen weniger.
Hat es denn wirklich nur Vorteile, wenn alle dieselben Rechte haben und niemand die Hauptverantwortung trägt?
Ich erinnere mich an einen Fall, wo es sicher einfacher gewesen wäre, einen Vorgesetzten zu haben. Als Team sahen wir uns gezwungen, einem Teammitglied zu kündigen, da der Einsatz für die übertragenen Aufgaben nicht mehr gegeben war. Da die Verantwortung für diesen Entscheid bei allen lag, mussten wir zuerst untereinander ausmachen, wer vom Team das Gespräch führt. Es wäre nicht zielführend gewesen, wenn das gesamte Team an diesem Prozess beteiligt gewesen wäre. Diese zeigt, dass auch schwierigere Themen zu einem selbstorganisieren Team gehören und diese nicht einem Chef delegiert werden können. Aber auch aus den schwierigen Themen ergeben sich Vorteile. Jedes Teammitglied kann Führungsthemen übernehmen.
Und wer musste diese Aufgabe übernehmen?
Die Wahl fiel auf mich, weil ich die Person bereits am längsten kannte. Die auf den ersten Blick unangenehme Aufgabe ist mir aber als wertvolle Erfahrung in Erinnerung geblieben. Das Gespräch ist sogar positiv ausgegangen. Die Person hat es geschätzt, dass ich auf sie zugekommen bin und hat den Entscheid des Teams verstanden, weil sie auch selbst nicht mehr zufrieden war mit ihrer Rolle. Ich sehe es nicht als Nachteil der Soziokratie, dass wir selbst etwas unternehmen mussten. Vielmehr hat dieses Modell im vorliegenden Fall wohl sogar die Veränderung bewirkt. In hierarchischen Strukturen wehren sich Mitarbeitende oft nicht gegen vergleichbare Situationen. Und der Chef bekommt unter Umständen nichts mit, wenn die anderen durch Mehraufwand die mangelhafte Leistung eines Teamkollegen ausgleichen. Wenn aber alle gleichberechtigt auf ein Ziel hinarbeiten, findet man auch eher zu einer Lösung.
Sie wollten mit Ihrer Masterarbeit eine theoretische Grundlage schaffen für ein soziokratisches Organisationsmodell. Inwiefern sind die Erkenntnisse daraus in Ihre Berufspraxis eingeflossen?
Dieser Prozess hat bereits während des Schreibens begonnen. So setzten wir laufend zentrale Elemente der Soziokratie in die Praxis um: Zum Beispiel den Konsent. Im Gegensatz zum Konsens muss bei diesem Entscheidungsverfahren nicht das Einverständnis aller Beteiligten vorliegen. Stattdessen wird eine Entscheidung einfach getroffen, sofern niemand einen begründeten Einwand vorbringt. Da Fairness und Gleichheit in der Soziokratie wichtige Eckpfeiler sind, haben wir auch die Löhne offengelegt und im Plenum diskutiert. Das führte aber zu einer sehr emotionalen Diskussion, unter anderem weil keine Richtlinie bestehen, welchen Anteil nun die Erfahrung, das Alter oder die Dienstreue am Lohn ausmachen sollen. Man kann sich darüber streiten, ob das sinnvoll ist, die Löhne offen zu legen. Sogar in der Theorie ist man sich darüber uneinig.
Haben auch andere Unternehmen von Ihrer Masterarbeit profitiert?
Ich werde oft für Referate über Soziokratie angefragt. Letzten September sprach ich beispielsweise an einer HR-Fachtagung vor 500 Leuten. Dieses Jahr hielt ich ein Referat an einer Tagung von Berufsberatern. Und im Juni dieses Jahres folge ich der Einladung einer Bank. Aufgrund meiner Masterarbeit habe ich auch selbst ein Unternehmen gegründet, das auf den Bereich Beratungen, Innovation, und selbstorganisierte Organisationsformen spezialisiert ist. Hauptsächlich bin ich heute aber bei CYP Challenge your Potential tätig, ein Kompetenzzentrum für modernes Lernen.
Sie haben im Rahmen Ihrer Arbeit auch einen Selbstevaluationstest erstellt, womit Unternehmen abschätzen können, ob die Einführung des soziokratischen Organisationsmodells in ihrem Unternehmen sinnvoll ist und sie die nötigen Voraussetzungen mitbringen. Gab es dafür eine Nachfrage?
Mehrere Unternehmen haben die Selbstevaluation gemacht. Der Test enthält einfache, aber zentrale Fragen. Die wichtigste Voraussetzung ist für mich, dass Führungspersonen Vertrauen in ihre Mitarbeitenden haben. Das äussert sich darin, dass sie ihnen die Freiheit geben, wie sie ihre Ziele erreichen und wie sie ihr Budget einsetzen.
Was empfehlen Sie Organisationen, welche die Soziokratie einführen wollen?
Einfach einmal ausprobieren ist nie falsch. Es ist aber sinnvoll, mit einem kleinen Team zu starten. Wenn es dort gut läuft, kann man das Modell auf weitere Abteilungen übertragen.