Palliative Care verbindet man hauptsächlich mit Sterbebegleitung bei älteren Menschen. Aber welche Rolle spielt sie bei Neugeborenen? In der Schweiz sterben jährlich über 300 Kinder noch vor ihrem ersten Geburtstag. Grossmehrheitlich handelt es sich um Säuglinge, die nach der Geburt auf einer Kinderintensivstation ums Überleben kämpfen. Als betroffene Mutter hat Fabienne Troxler diese Situation über fünf Wochen lang miterlebt und dabei verschiedene Schwachstellen im Schweizer Gesundheitssystem festgestellt. Ihre Masterarbeit hat die Absolventin des MAS in Corporate Innovation Management deshalb dem Thema «Palliative Care am Lebensanfang» gewidmet. Dabei ist sie unter anderem der Frage nachgegangen, wie sich Entscheidungs- und Kommunikationsprozesse auf der Intensivstation verbessern lassen. Im Interview spricht sie über die Erfahrung, von den Ärzten nicht ernst genommen zu werden, über Mängel in der Kommunikation und über mögliche Lösungsansätze.
Palliative Care und Innovation miteinander zu verknüpfen, ist ungewöhnlich. Was war für Sie der ausschlaggebende Moment, dies in Ihrer Arbeit zu tun?
Als meine verstorbene Tochter auf die Welt kam, stand ich kurz vor der Masterarbeit. Nach über fünf Wochen mit ihr auf zwei verschiedenen Kinderintensivstationen wurde mir klar, dass im Bereich Palliative Care auf der Kinderintensivstation enormer Handlungsbedarf besteht. Der interdisziplinäre Aufbau des Studiengangs Corporate Innovation Management ermöglichte es mir, mich mutig an ein Thema zu wagen, das nicht zu meinem Fachgebiet gehört. In bin weder in Palliative Care noch in der Pflege oder Medizin ausgebildet, aber als betroffene Mutter konnte ich eine gewisse Expertise aufweisen; aus Sicht des Kunden beziehungsweise Patienten.
Das Schweizer Gesundheitssystem gilt als eines der besten der Welt. Als Mutter einer Tochter, die auf der Intensivstation einer Schweizer Kinderklinik verstarb, haben Sie andere Erfahrungen gemacht. Welche?
Die Kommunikation mit Intensivmedizinern war stets schwierig. Wir als Eltern wurden zu wenig informiert, kaum in Entscheidungen eingebunden und unsere Hinweise wurden mehrfach nicht ernst genommen. Wir erlebten, dass die Kommunikation auf verschiedenen Ebenen eine grosse Herausforderung für alle darstellte; zwischen Eltern und Ärzten, zwischen Pflegenden und Ärzten sowie zwischen den einzelnen Fachdisziplinen. Wiederholt wurden widersprüchliche Informationen an uns herangetragen oder wichtige Informationen gingen verloren. Es stimmt mich noch heute sehr traurig, dass unserer Tochter sehr viele unangenehme Untersuchungen und eine Herzoperation hätten erspart werden können, wenn die Ärzte unseren Hinweisen von Anfang Bedeutung zugemessen hätten. Das Schweizer Gesundheitssystem mag vielleicht aus Sicht der medizinischen Möglichkeiten zu einem der besten der Welt gehören, doch das reicht bei Weitem nicht aus, um die für den einzelnen Patienten bestmögliche Versorgung zu bieten. Wie in jedem anderen Unternehmen braucht es auch in unserem Gesundheitssystem Fachpersonen, welche die Koordination und die Kommunikation zwischen den einzelnen Abteilungen übernehmen.
«Es stimmt mich noch heute sehr traurig, dass unserer Tochter sehr viele unangenehme Untersuchungen und eine Herzoperation hätten erspart werden können, wenn die Ärzte unseren Hinweisen von Anfang Bedeutung zugemessen hätten.»
Fabienne Troxler
Inwiefern haben die Ärzte Ihre Hinweise nicht ernst genommen?
Unsere Tochter wurde an ihrem 14. Lebenstag am Herzen operiert, während mehrerer Wochen künstlich beatmet, über vier Wochen täglich mit Morphin sediert und sehr vielen unangenehmen Untersuchungen ausgesetzt. Intuitiv spürten wir Eltern, dass das nicht der richtige Weg für unsere Tochter ist. Wochenlang wurde unser Drängen nach einer genetischen Analyse ignoriert und abgelehnt. Erst als die Ärzte nicht mehr weiterwussten, haben sie genetische Abklärungen eingeleitet. Die Diagnose war niederschmetternd: «Trisomie 13. Das Kind ist nicht überlebensfähig.» Nach fünf Wochen sinnlosen Kampfes wurde uns unmittelbar empfohlen, schnellstmöglich alle lebenserhaltenden Massnahmen einzustellen. Hätten die Ärzte uns Eltern von Anfang an ernst genommen, wäre die Diagnose nach wenigen Tagen klar gewesen und wir hätten den palliativen Weg gewählt. Daneben, dass Operation, Untersuchungen und Behandlung auf der Intensivstation unnötig hohe Kosten verursacht haben, entsprachen die fünf Lebenswochen nicht der Lebensqualität, die wir uns für unsere Tochter in ihrem kurzen Leben gewünscht hätten. Während der Verkündung der Diagnose war keine psychologische Fachperson anwesend, auf Nachfrage unserseits war weder eine psychologische Fachperson noch eine Person aus der Palliative Care verfügbar.
Allein die Anzahl der involvierten Fachpersonen ist für Eltern eine Herausforderung. Wie haben Sie das erlebt?
Nach unseren Erfahrungen konzentrierten sich die Fachspezialisten zu sehr auf ihr eigenes Spezialgebiet. Die Kardiologen interessierte das Herz. Die Otorhinolaryngologen untersuchten die Atemwege und Bronchien, sobald es jedoch Richtung Lungen ging, waren Pneumologen zuständig. Dies sind nur ein paar Beispiele der involvierten Fachdisziplinen. Damit der Blick für das Wesentliche, den Patienten als Ganzes mit seinem Recht auf Lebensqualität, nicht verloren geht, braucht es eine klare und eindeutige Kommunikation und eine Instanz, die alle Fäden zusammenführt. Den Überblick zu bewahren und die Kommunikation mit den Eltern, gehört neben der medizinischen Stabilisation des Patienten aktuell ebenfalls zum Aufgabengebiet des Intensivmediziners. Wir erlebten Intensivmediziner oft als überfordert mit der Situation und der Kommunikation. Der häufige Personalwechsel und Zeitmangel führten dazu, dass Informationen verloren gingen und die wechselnden Oberärzte auf der Intensivstation den Behandlungsplan mehrfach änderten, ohne sich vorgängig genauer in die Akte einzulesen.
Stirbt in der Schweiz eine Neugeborenes, geschieht dies in über 90 Prozent der Fälle auf einer pädiatrischen oder neonatologischen Intensivstation. Die in Ihrer Arbeit zitierte PELICAN-Studie zeigt auf, dass Ärzteschaft und Pflegende der Betreuung eines sterbenden Kindes höchste Bedeutung zumessen, aber trotzdem nicht alle Eltern zufrieden damit sind. Wie kommt es zu dieser Diskrepanz?
Wenn ein Kind stirbt, befinden sich betroffene Eltern in einer absoluten Ausnahmesituation. Sie fühlen sich hilflos und wünschen sich die bestmögliche Lösung für ihr Kind. Dabei sind sie auf den fachlichen Rat der Ärzteschaft angewiesen und brauchen eine unterstützende Begleitung. Allerdings herrscht auf den Kinderintensivstationen ein enorm hektisches Klima. Viele Fachpersonen und verschiedene Fachdisziplinen sind involviert, es mangelt an Privatsphäre und Entscheidungen müssen vermeintlich schnell getroffen werden. Der Ärzteschaft fehlt schlichtweg die Zeit und Ausbildung für eine angemessene Begleitung und Involvierung der Eltern.
Wie sieht für Sie – nach allen Modellen, die Sie im Rahmen Ihrer Arbeit beleuchtet haben – die optimale Involvierung aus? Und welche Entscheidungen sollten nach wie vor die Ärzte treffen?
Die optimale Involvierung beginnt bereits wenige Minuten nach Eintritt auf der Intensivstation und entspricht am ehesten dem Shared Decision-Making Modell, auch bekannt als partizipative Entscheidungsfindung. Es ist unabdingbar, dass sich Eltern und Behandlungsteam gegenseitig kennenlernen und schnellstmöglich Vertrauen aufbauen. Dafür braucht es Begegnungen auf Augenhöhe und mehrere Gespräche in regelmässigen Abständen. Im Idealfall besteht ein Vertrauensverhältnis, wenn es zur schwierigsten aller Entscheidungen kommt – nämlich dem Einstellen der lebenserhaltenden Massnahmen. Um die Eltern zu entlasten und spätere Schuldgefühle zu vermeiden ist es ratsam, wenn das Behandlungsteam in dieser Hinsicht entscheidet. Dennoch muss das gewünschte Mass an Involvierung mit den Eltern thematisiert werden. Ihre Bedürfnisse sind individuell.
Eine Ihrer Forschungsfrage lautete, ob es innovative Instrumente der Gesprächsführung zwischen Arzt und Eltern gibt, die eine Einbindung der Eltern in die Entscheidungsfindungsprozesse erleichtern? Es stellte sich heraus, dass solche Instrumente weder in der Literatur noch in der Praxis wirklich vorhanden sind. Was hat dieses Resultat in Ihnen ausgelöst?
Die Resultate haben mich nur teilweise überrascht. Schliesslich war der Anspruch unserer Gesellschaft an die Ärzteschaft bis nach der Mitte des 20. Jahrhunderts ein ganz anderer als heute. Das paternalistische Prinzip dominierte die medizinische Entscheidungsfindung. Bei dieser entscheidet ausschliesslich der Arzt. Trotzdem ist es höchst bedauernswert, dass neben dem rasanten medizinischen Fortschritt die entsprechende Einführung adäquater Kommunikationsinstrumente für Mediziner nicht stattgefunden hat. Heute habe ich jedoch mehr Verständnis für die behandelnden Ärzte. Sie sind mit dieser höchst anspruchsvollen Aufgabe ohne entsprechende Ausbildung grösstenteils auf sich selbst gestellt.
Was müsste das Schweizer Gesundheitssystem allgemein ändern, damit sich Mütter und Väter von schwer kranken oder sterbenden Neugeborenen besser verstanden fühlen?
Für mich gibt es zwei Wege: Entweder man bildet das medizinische Fachpersonal – in erster Linie die Ärzteschaft – in Gesprächstechniken aus und fördert das Bewusstsein für kommunikative Prozesse sowie eine umfassende Palliative Care. Oder man delegiert die Gesprächsführung und Involvierung der Eltern stattdessen an geschultes Fachpersonal. Genauso wichtig ist die Definition von eindeutigen Qualitätsstandards in der Kommunikation, sei es für die Optimierung der Kommunikation zwischen den einzelnen Fachdisziplinen oder zwischen Behandlungsteam und Eltern. Des Weiteren braucht es eine Standardisierung der Kommunikations- und Entscheidungsfindungsprozesse unter Einbezug der Eltern sowie die Entwicklung entsprechender Arbeitsinstrumente.
Inwiefern hat die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Ihr Denken und die Sicht auf Ihre eigenen Erfahrungen verändert?
Die Ergebnisse zeigen, dass unsere Erfahrung kein Einzelfall war und in diesem Bereich gesamtschweizerisch dringender Handlungsbedarf besteht. Ich hätte mir vorher nie vorstellen können, dass in unserem teuren Gesundheitssystem eine derart grosse Schwachstelle vorhanden ist. Inzwischen bin ich davon überzeugt, dass diese Problematik nicht nur auf Kinderintensivstationen besteht, sondern ein grundsätzliches Problem unseres Gesundheitssystems ist.
Was geschieht mit den Erkenntnissen aus Ihrer Arbeit? Gibt es ein Interesse daran seitens Spitälern, Ärzten, betroffenen Eltern?
Bisher hat kein Spital Interesse daran bekundet. Sehr gerne würde ich jedoch in einem interdisziplinären Team bei der konkreten Ausarbeitung von Instrumenten und Standards als Expertin der Elternsicht und aus der Perspektive des Innovationsmanagements mitwirken.